Oft gibt es Gegenverkehr, und man muss auf den Fußweg ausweichen“, liest Leni vor, „eine Freundin von mir ist vor das Auto gefahren und umgefallen“. Es sind Zitate aus einer Umfrage bei ihr an der Schule, dem Gymnasium Corveystraße im Stadtteil Lokstedt. Dort setzen sich die fünf Schülerinnen dafür ein, dass ihr Schulweg sicherer wird. Begonnen haben sie damit vor vielen Monaten als Teil des Unterrichts – inzwischen sind sie sogar in ihrer Freizeit aktiv und lassen nicht mehr locker. Obwohl es bald nicht mehr ihr eigener Schulweg sein wird, weil sie bereits für das Abitur lernen, die Prüfungen stehen an. Und obwohl sie natürlich auch noch all das machen, was man halt so macht, wenn man gerade volljährig wird.
Am Anfang hat unsere Klasse gelacht über unsere Idee. Das sei viel zu schwierig.
„Lernen durch Engagement“: So heißt das Unterrichtsfach von Milla, Sarah, Antonia, Leni und Mina. Das Projekt der BürgerStiftung Hamburg, das Schulen bei dessen Umsetzung unterstützt, nennt sich [’You:sful]. 33 Schulen machen mit. Das Ziel: Schüler:innen zu ermutigen, sich für ihre Interessen, für ihren Stadtteil stark zu machen – und dabei zu entdecken, dass sie etwas zum Besseren verändern und Einfluss auf gesellschaftliche Probleme nehmen können. „Die Schülerinnen entwickeln dabei auch Fähigkeiten, die im Unterricht sonst weniger zum Tragen kommen“, sagt Andreas Fischer, der Lehrer der Schülerinnen, „Empathie zum Beispiel oder den Mut, auf Menschen zuzugehen und sich auf andere Milieus, Generationen und Denkweisen einzulassen. Das macht selbstbewusst und stärkt demokratische Kompetenzen.“ Engagement fordern, Demokratie verstehen und schützen: Das ist wichtig und wird immer wichtiger. Und gerade am Gymnasium Corveystrase hat das eine lange und erfolgreiche Tradition. Seit 15 Jahren ist die Schule Teil von [’You:sful], Lehrer Andreas Fischer ist von Anfang an dabei. Seine Schüler:innen haben in der Vergangenheit sogar erreicht, dass es einen Defibrillator im Stadtteil gibt.
Es ist Marz. Auf dem Schulhof vor dem Fenster rangeln Winter und Frühling miteinander – und noch ist klar, wer starker ist: Die Kinder und Jugendlichen draußen tragen Mützen. Drinnen sitzen die fünf Schülerinnen und erinnern sich, wie alles anfing mit ihrem Verkehrssicherheits-Projekt. Mina muss lachen. „Wenn die einen Defibrillator aufgehängt haben, können wir auch eine Ampel verschieben!“ So entschieden haben die fünf bereits vor gut einem halben Jahr gedacht, im September. Da sammelte die Klasse erste Ideen, für welche Projekte sie sich engagieren konnten. Die Ampel, die Mina meint, steht an der Hauptverkehrsstraße. Dort macht sie Probleme und birgt Gefahren. Eine Querstraße weiter stunde sie viel besser. Gros zu denken: Auch darum geht es bei [’You:sful]. Um dann zu diskutieren, Meinungen auszutauschen, Kompromisse auszuhandeln. Zwei Stunden in der Woche sind für das Seminarfach „Lernen durch Engagement“ eingeplant, aber das Fach strahlt aus – auf den Politikunterricht und darüber hinaus. Selbst auf der Klassenfahrt nach Berlin stecken die Schülerinnen immer wieder die Köpfe zusammen und beraten: Was können wir konkret tun? Weitere Vorschlage entstehen: eine Einbahnstraße, Verkehrsspiegel, Warnschilder. Alle Ideen werden im Unterricht besprochen. Die Reaktion der Klasse auf die Verschiebung der Ampel ist eindeutig: „Die haben uns ausgelacht“, sagt Leni und grinst.
Und wirklich: Der erste Schritt ist fast auch der letzte. Die Schülerinnen rufen bei einigen Behörden und bei der Polizei an, reden über die Gefahren und über die Ampel. „Die haben uns alle gesagt, das sei schwierig, weil das nicht einfach so gemacht werden kann“, sagt Sarah, „oder die waren nicht zuständig.“ „Da haben wir uns gefragt, ob das Projekt wirklich eine gute Idee ist“, sagt Mina. „Aber Herr Fischer meinte, wir sollten dranbleiben.“ Der Lehrer kennt die Hürden: „Gerade bei Behörden beißen sich die Schülerinnen und Schüler oft die Zähne aus, da ist eine hohe Frustrationstoleranz nötig.“ Aber „Lernen durch Engagement“ heißt auch: zu lernen, mit Rückschlägen und Hürden umzugehen. Es wird Oktober. Es wird November. Demokratie braucht einen langen Atem. Andere in der Klasse organisieren Bücherspenden für Kindergärten oder sammeln Müll mit Grundschüler:innen. Die fünf machen weiter mit ihrer „Mission Ampel“.
Im Unterricht wird klar, dass sie Beweise brauchen, um die Politik davon zu überzeugen, dass es überhaupt ein Problem gibt. Und dass sie noch viel mehr Meinungen einholen müssen. Zahlen, Fakten, Zeugen. „Also haben wir zwei Umfragen gestartet“, sagt Antonia. „Die erste war eine für die Menschen, die rund um unser Gymnasium wohnen.“ Und so landet in deren Briefkästen ein Zettel mit einem QR-Code, der zu einer Online-Umfrage führt. Im Dezember trudeln die Ergebnisse ein: 39 Prozent der Anwohner:innen fahren mit dem Auto, 35 Prozent sind zu Fuß oder mit dem Bus unterwegs. Vom bevorzugten Verkehrsmittel her liegt die Schule also in einem recht gemischten Viertel. Sicherheit auf der Straße sei den Anwohner:innen wichtig, sagen sie. Und sie machen Vorschläge: Verkehrsinseln, Poller, ein „Anlieger frei“-Gebiet. „Die haben sich echt mit unserer Umfrage auseinandergesetzt und wollen uns weiterhelfen“, erinnert sich Milla. „Ehrlicherweise haben viele das Problem aber eher bei uns Schülern gesehen“, ergänzt Mina, „dass wir mit den Rädern auf dem Fußweg fahren und so.“ „Da kam auch die Idee eines Workshops zur Verkehrssicherheit auf“, sagt Leni, „um schon den jüngeren Schülerinnen und Schülern klar zu machen, dass sie besser nicht zu fünft nebeneinander fahren.“
Seit dem Schuljahr 2008/09 ist die BürgerStiftung Hamburg Teil des Netzwerks „Lernen durch Engagement“ (LdE). Als Kompetenzzentrum begleitet sie Schulen und Lehrer:innen beratend und mit Workshops, stellt Materialien und Methoden zur Umsetzung der Lernform bereit und setzt sich dafür ein, LdE bildungspolitisch zu verankern. Sie haben Fragen oder möchten mit Ihrer Schule an [’You:sful] teilnehmen? Wenden Sie sich gerne an: Dr. Heike Schmidt, Tel. (040) 8788969-66 bzw. an heike.schmidt@buergerstiftung-hamburg.de
Damit könnte die Geschichte über das Lernen durch Engagement bereits zu Ende sein. Schließlich endet kurz nach Weihnachten das Schuljahr. Die Schülerinnen präsentieren ihr Projekt vor der Klasse, bekommen eine Abschlussnote und ein Zertifikat. [’You:sful] ist eine Erfolgsgeschichte – so würde das Fazit lauten. Das sagen auch die Zahlen der BürgerStiftung Hamburg: 90 Prozent der Teilnehmenden sind davon überzeugt, mit ihrem Projekt Gutes bewirkt zu haben – und zwar mit immer neuen Themen: Stand 2009 das Engagement in sozialen Einrichtungen im Vordergrund, kam seit 2013 das Thema Flucht hinzu sowie Projekte im Umwelt-, Tier- und Klimaschutz, außerdem die Themen Toleranz und Gender. „Lernen durch Engagement“ hat zudem positive Auswirkungen auf die Schüler:innen und ihre Leistung in der Schule: Das Gelernte wird nachhaltiger erinnert, die Fähigkeit zur Selbstorganisation wächst und die Lernmotivation steigt. Die Geschichte ist aber noch nicht vorbei. Denn die Schülerinnen legen jetzt erst richtig los. Erst einmal startet Mitte Januar die zweite Umfrage, die unter den Schüler:innen des Gymnasiums. Und die liefert endlich Beweise: Die Gefahr auf dem Schulweg ist real. 39 Prozent der Mitschüler:innen empfinden den Schulweg als belastend und fahren auf dem Bürgersteig, um Autos auszuweichen. Die fünf beschließen, ihr Projekt nun auch den Eltern vorzustellen – und sie rennen offene Türen ein. „Es ist so toll, dass die Schülerinnen das machen“, sagt Miryam Kruse vom Elternrat, „ich betrachte den Verkehr seit Jahren mit Sorge.“
Die Schülerinnen entwickeln dabei Fähigkeiten, die im Unterricht sonst weniger zum Tragen kommen – Empathie zum Beispiel oder den Mut, auf Menschen zuzugehen.
Andreas Fischer | Lehrer am Gymnasium Corveystraße
Dann, Ende Februar: die Sensation. Die Schülerinnen werden in den Regionalausschuss Lokstedt/Niendorf/Schnelsen eingeladen, der für politische Entscheidungen auf Stadtteilebene zuständig ist. Am 4. März ist dessen nächste Sitzung, dann sollen sie ihre Vorschläge vorstellen. Dann geht es um alles. Schnell bastelt Sarah eine Präsentation für den Beamer. Am 29. Februar ist Generalprobe in der Schule. Die ganze Klasse gibt ihnen Tipps. Gut ist: Herr Fischer wird mitkommen und Frau Kruse wird für den Elternrat sprechen. Schließlich ist es so weit. Mina, Sarah, Antonia, Leni und Milla stehen im Sitzungssaal. „Vor uns saßen die Vertreter:innen der ganzen Parteien, von Behörden und der Polizei“, sagt Sarah, „und viele Bürger:innen.“ „Das war aufregend“, sagt Milla. Die Seiten der Präsentation hatten sie unter sich aufgeteilt: Mina leitet ein, Leni stellt die Verkehrssituation vor, Antonia beschreibt die Szenen, die alle auf den Fotos sehen können. Danach verliest Miryam Kruse den Text des Elternrats. „Ich stehe hier auch als Mutter von zwei Kindern, die ebenfalls diese Schule besuchen“, sagt sie danach. „Ich bin so froh, dass diese Schülerinnen gekommen sind und gesagt haben: Wir machen den Schulweg sicherer.“ „Das war sehr leidenschaftlich“, erinnert sich Sarah. Was folgt, ist Applaus. Dann Nachfragen, dann ist der Termin vorbei. „Es war ein toller Abend“, wird Frau Kruse kurz darauf in den E-Mail-Verteiler des Elternrats schreiben, „die Schülerinnen haben einen richtig guten Eindruck gemacht!“ „Die fünf zu begleiten und zu sehen, dass ihr Anliegen bei den Politiker:innen Wirkung entfaltet, war großartig“, erinnert sich ihr Lehrer Andreas Fischer.
Und das Beste, das kommt jetzt: Der Regionalausschuss beschließt kurz darauf, zu prüfen, wie Lösungsvorschläge der Schülerinnen umgesetzt werden können! Ein Riesenerfolg! Das sieht auch die Presse so: Das Hamburger Abendblatt berichtet, der NDR macht einen Beitrag. Die fünf sind stolz: „Es wird sehr realistisch, dass da vielleicht was passiert“, sagt Mina. „Wenn wir uns nicht eingesetzt hätten, wäre das nicht zustande gekommen“, sagt Milla. So haben alle etwas davon: Die Demokratie ist gestärkt, die Abiturientinnen haben viel gelernt durch ihr Engagement – und ihre Mitschüler:innen am Corvey-Gymnasium hoffentlich bald einen weniger gefährlichen Schulweg. „Das ist das erste Mal, dass ich mich in der Politik engagiert habe“, sagt Antonia. „Dass wir auf so viel Zuspruch gestoßen sind, war wirklich ein Boost.“