An die BürgerStiftung Hamburg spenden:
04.09.2024

Damit etwas wachsen kann

Beim Projekt 'Let It Grow' der Hamburger Bürgerstiftung kommen Menschen aus einer Nachbarschaft im Hamburger Stadtteil Kirchdorf-Süd einmal die Woche zum gemeinsamen Gärtnern und Kochen zusammen.

Möwen kreisen über den Dächern der Hochhäuser. Sie suchen den Boden nach Futter ab. Irgendjemand da unten wird bestimmt gleich etwas fallen lassen – denn Menschen gibt es genügend hier in Kirchdorf-Süd. Es ist eng da unten, viel enger als im Rest von Hamburg. Was den Möwen Hoffnung macht: dass einige Menschen Tische und Bänke aufklappen und zusammenstellen. Bald wird es etwas zum Essen geben.

Beim Projekt 'Let It Grow' der Hamburger Bürgerstiftung kommen Menschen aus einer Nachbarschaft im Hamburger Stadtteil Kirchdorf-Süd einmal die Woche zum gemeinsamen Gärtnern und Kochen zusammen.

„Kirchdorfer Tauben!“, ruft Dirk Bahr und zeigt neun Stockwerke hoch in den Himmel. Er freut sich: Wie schön es doch ist, hier zu wohnen im Süden von Wilhelmsburg, wo so selbstverständlich Möwen über die Köpfe fliegen. Die anderen lachen. Um ihn herum wird es voll auf den Holzbänken vor den Hochbeeten – wie jeden Dienstag. Einige sind schon länger bei „Let it grow!“, andere sind zum ersten Mal da. Weil sie heute Nachmittag gerne ein bisschen in der Erde buddeln wollen oder sich um die neuen Setzlinge kümmern werden in diesem kleinen Paradies, das sie zwischen den Hochhäusern schaffen für sich und alle Menschen drumherum. Let it grow! ist ein Urban Gardening Projekt. Die ersten dieser urbanen Gärten entstanden in den Siebzigerjahren in New York, als Menschen aus ärmeren Stadtteilen auf leerstehenden Flächen Obst und Gemüse anbauten, zur Selbstversorgung – aber auch, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Urban Gardening besteht schon immer aus drei Zutaten: Eine Prise Naturerlebnis und eine Messerspitze Ernährungsberatung gehören dazu – aber auch ein gehäufter Löffel Selbstermächtigung. Urbane Gärten sind selten Teil von Stadtplanung. Sie werden nicht verordnet, sondern erkämpft. Und es sind stets auch soziale Räume. Urbane Gärten wachsen von unten – mit den Menschen, die sich kümmern.

Herr Kai kümmert sich bei „Let it grow“ ums Essen.

Willkommen sind alle hier bei „Let it grow!“. Und alle sind verschieden. Das sieht man schon den Namensschildern an, die gerade beschriftet werden. Auf manchen stehen die Vornamen, auf anderen nur Nachnamen, auf einigen beides. Alle hier haben ihre Vorlieben und ihre eigene Geschwindigkeit. Herr Lai zum Beispiel hat sich als erster hingesetzt und schnibbelt die roten Zwiebeln. Der 76-Jährige mag nicht warten, bis die Eröffnungsrunde vorbei ist. „Sonst wird mir langweilig“, sagt er, lächelt und schnibbelt seelenruhig weiter. „Diese Runde am Anfang machen wir immer“, sagt Kathrin Schwarz. Sie ist die Leiterin des Projekts. „Da stellen sich alle vor und erzählen, was sie heute vorhaben. So können sich alle gut einbringen. Zum Schluss wird immer gekocht und zusammen gegessen.“ Heute liegt grüner Spargel auf dem Holztisch, daneben Sellerie und Rhabarber. „Let it grow!“ bekommt Spenden von der Wilhelmsburger Tafel und kauft beim Supermarkt um die Ecke ein, damit es immer genügend Zutaten gibt. Das Projekt ist genauso fein wie klein, in den wenigen Beeten blühen zwar schon Erdbeeren oder es wachsen Zwiebeln, es gibt Zitronenmelisse – aber es reicht nicht für ein großes Essen jede Woche. „Wenn aber mal Selbstgezogenes da ist wie zum Beispiel Radieschen, dann schmeckt alles natürlich noch viel besser“, sagt Kathrin Schwarz. „Da sind viele aber auch oft schon gegessen, bevor gekocht wird.“

Die Gruppe hat sich zwischen den Beeten verteilt. Mahub Attay hat sich den Gartenschlauch geschnappt und gießt Pflanzen, wie immer am Dienstag. Weil es ihm Spaß macht. Weil er nicht schwer heben kann und daher bei den leichten Dingen hilft. „Und weil das Gemüse das braucht. Ich gebe ihm Wasser.“ Julia kommt aus Harburg hierher, weil es schön ist, etwas zu tun mit den Händen, sie wird den Spinat ernten. Corny hilft beim Kochen mit. Sie freut sich, dass sie auf so viele Kulturen trifft, „da lerne ich immer wieder Neues.“ Die Offenheit fällt auf. Immer wieder wird gefragt: „Was heißt das auf Arabisch?“ Oder: „Was macht man damit?“ Nicht in allen Kulturen gehört Rhabarber einfach so dazu. Corny kommt seit drei Jahren zu „Let it grow!“. Nicht nur wegen der Pflanzen. „Sonst würde ich Zuhause sterben vor Einsamkeit.“ Herr Lai schnibbelt nun Sellerie. Er trifft hier oft Nachbarn, die er nur vom Sehen kennt. „Hier reden wir miteinander.“ Gabi pflanzt gerade Tomatensetzlinge in Töpfe. „Wie heißt es so schön? Wir sind gemeinsam verschieden“, sagt sie.

Kathrin Schwarz leitet das Projekt „Let it grow“.

Es ist kein Wunder, dass die Geschichte von „Let it grow!“ mitten in der Coronazeit begann, im Jahr 2020, als alle isoliert waren voneinander. „Wir hatten damals eine Aktion, die hieß ‚Solidarität ist machbar zwischen Nachbarn‘“, erinnert sich Kathrin Schwarz, „da rief eines Tages jemand an und sagte, er hätte so viele Pflanzen vorgezogen und wüsste nicht, wohin damit.“ Und so stand sie mit ihren Leuten vom Sozialkontor plötzlich mit unzähligen Kaffeebechern da, in denen Blumen wuchsen. Einige haben sie auf dem Marktplatz von Kirchdorf- Süd verschenkt, andere in die Erde gepflanzt – da, wo nun die Hochbeete stehen. „Die Leute haben gestrahlt“, erinnert sie sich, „vor allem die aus den Hochhäusern drumherum. Die Balkone geben es nicht her, dass man was pflanzt.“ Aus diesen frischen Trieben erwuchsen regelmäßige Treffen und Workshops. Die Nachbar:innen diskutierten, wie man die Natur erleben, verstehen und schützen kann. Es wurden weniger Blumen gepflanzt, dafür mehr Gemüse. Beete kamen hinzu. Das Projekt wurde immer größer. Und sollte bleiben. Weil klar war: „Gärtnern geht nur langfristig. Die Menschen möchten etwas wachsen sehen übers Jahr hinweg“, sagt Kathrin Schwarz. Damit sie gerne wiederkommen wie die Löwenmäulchen vom letzten Jahr. Sie hat eine blaue Kaffeetasse in der Hand, auf der „Let it grow!“ steht.

Es braucht nicht viel, für ein leckeres Essen. Selbstgemachtes Fladenbrot mit Spinat und Käse, zubereitet auf einem kleinen Holzofen.

Auf einer kleinen Wiese neben dem Kinderspielplatz liegt jetzt eine helle Decke, daneben steht ein mobiler Backofen. Ali Yüce hat Holz herangeschafft. Der gelernte Bauschlosser kümmert sich hier um alles Handwerkliche. „Das kann ich Zuhause nicht machen“, sagt er, „und hier arbeite ich auch noch an etwas Sinnvollem.“ Sogar eine kleine Werkstatt hat er eingerichtet im Häuschen nebenan. Jetzt muss der Ofen heiß werden. Dirk Bahr pustet ins Feuer, Rauch steigt auf. Daneben, auf der Decke, sitzt Frau Nergiz und macht Gözleme, Fladenbrot gefüllt mit Spinat, Käse oder Kartoffeln. Sie ist kurdische Alevitin und hat zur Feier des Tages ein Kopftuch angezogen, dass die Frauen in ihrer Kultur tragen, wenn sie Brot machen. Den Teig hat sie mitgebracht. „Ich liebe das“, sagt sie, „wir hatten früher ein Restaurant.“ Jetzt ist sie Rentnerin, hat Rheuma und oft Schmerzen. „Nur hier nicht“, sagt sie. „Wenn ich hier bin, bin ich kerngesund.“ Neben ihr sitzt Mirvat mit ihrer Freundin Masumeh. „Wir helfen gerne mit“, sagt Mirvat.

„Möchte jemand probieren?“, schallt es von den Holztischen. Thomas Pennington hält ein paar Gläser in der Hand. Er hat aus Rhabarber Sirup gemacht. Der 47-Jährige studiert Soziale Arbeit, „Let it grow!“ ist Teil seines Praktikums. Davor hat er 20 Jahre als Koch gearbeitet – nun kocht er gerne hier. „Manchmal gibt es nur Nudeln mit Pesto aus irgendwelchen Kräutern, die gewachsen sind“, sagt er. „Aber wenn wir das zusammen essen, ist alles lecker.“ „Der Sirup ist wirklich gut“, sagt Kerstin Lübbert. Sie setzt das Glas ab und ruft dann: „Der Liebstöckel kann auch noch gepflanzt werden!“ Sie betreut die Gruppe und kümmert sich um alles Gärtnerische, also: was wann gepflanzt wird oder geerntet werden kann. Ihr Wissen gibt sie gerne weiter. „Es gibt hier ja faktisch auch etwas zu lernen“, sagt sie: „Wo kommt eigentlich mein Essen her?, zum Beispiel.“ Wichtig sei: Es gibt zwischen den Beeten keine Fehler. „Manchmal muss ich fast weinen, wenn Setzlinge im Wasser untergehen, aber so etwas gehört zum Verstehen dazu.“ Was sie besonders freut? „Dass die Menschen hier inzwischen auch herkommen, wenn schlechtes Wetter ist.“

Dieser Garten ist ein Ort, den wir gemeinsam für uns gestaltet haben.

Let it grow

So wie Houssein Sleiman aus dem Libanon. Seit acht Monaten ist der 23-Jährige in Deutschland, es ist sein erster Sommer bei „Let it grow!“. „Ich mag Blumen und Unkraut jäten“, sagt er und wackelt mit der Gartenschere in seiner Hand. „Und ich lerne Deutsch. Es s ind gute Leute hier.“ Was er noch mag: „Alles im Garten ist langsam. Es gibt kein: Du musst, musst, musst.“ Alle haben ihre Geschwindigkeiten, auch die Natur. Und alle müssen sich Zeit nehmen, damit der Garten gelingt. Gemeinsam. Wasem aus Libyen bringt es auf den Punkt, auf Englisch: „We take care of this garden and of each other“, sagt er – „that’s it.“ „Wir kümmern uns um diesen Garten und um uns. Das ist alles.“ Und doch: alles. Dann: Tumult bei den Holzbänken. Frau Nergiz steht mit einem Fladen zwischen den anderen und zerteilt ihn. „Das ist mein Freundebrot“, ruft sie, „das letzte Brot wird immer geteilt, das schmeckt dann noch mal besser!“ Dann gibt es Essen. Es gibt Salat mit Spargel und Fattoush, arabischen Brotsalat. Und es gibt die frischen Gözleme und dazu einen fetten Applaus für Frau Nergiz. Es ist genug für alle da, von den Möwen ist nichts mehr zu sehen.

Zwei Teilnehmer verteilen Erde aus einer Schubkarre.

Wären sie noch da, würden sie einen kleinen Garten sehen, den es nicht geben würde ohne die Menschen, die da unten miteinander am Tisch sitzen. Den sie geschaffen haben vor vier Jahren. „Den wir gemeinsam für uns gestalten“, sagt Gabi. Auch darum geht es: zu erleben, dass man Einfluss nehmen kann auf die Welt. Auf die eigene und die drumherum. Am Ende gibt es bei „Let it grow!“ immer eine Schlussrunde. Was habt ihr heute gemacht? Wie fandet ihr das Treffen heute? Was steht am kommenden Dienstag an? „Das machen wir auch, um zu zeigen: Wir alle sind verantwortlich für diesen Garten“, sagt Kathrin Schwarz. „Das war für mich ein sehr schöner Tag“, sagt Ali, „ich habe viel gelernt.“ „Ich habe Hokkaido gepflanzt und Kräuter“, sagt Kerstin, „das war wunderschön heute.“ „Ich habe eine Runde gegossen, wie immer“, sagt Mahub Attay. Dann ist Wasem dran. Er hat sein Handy in der Hand, auf dem Bildschirm sind oben arabische Schriftzeichen zu sehen und unten Text auf Deutsch. „Ich habe der Gruppe beim Gemüseschneiden geholfen“, sagt er stockend. „Vielen Dank für alles“, sagt Herr Lai.

Dann ist das Treffen fast zu Ende, es ist später Nachmittag geworden. „Gibt es noch was für das nächste Mal?“, fragt Kerstin Lübbert. „Wir können zum Beispiel wieder etwas aussäen. Die Bohnen zum Beispiel.“ „Kommenden Dienstag bitte wieder gute Beteiligung, wir sind nicht fertig geworden“, sagt Ali Yüce. Es gibt immer etwas zu säen, zu bauen, zu reparieren. Alle stehen auf, Tische und Bänke werden auseinandergeklappt und verstaut. Und mittendrin steht Kathrin Schwarz. „Es geht hier nicht nur um die Pflanzen“, sagt sie. „Es geht darum, dass wir hier Kraft schöpfen können, um weiter zu wachsen. Und ich bin mir sicher: Hier wächst was.“

IHRE SPENDE …

… stärkt den Zusammenhalt in unserer Stadt, das Verständnis füreinander und ermöglicht vielfältige Nachbarschaften.

 

Spendenkonto der BürgerStiftung Hamburg

IBAN: DE93 2005 0550 1011 1213 14
BIC: HASPDEHHXXX | Hamburger Sparkasse
Verwendungszweck: Natur und Umwelt

Hinweis: Bitte geben Sie im Verwendungszweck Ihre Adresse an, wenn Sie eine Spendenbescheinigung wünschen.