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03.06.2025

Miteinander reden … Bibel, Koran oder Star Wars

Hamburg: Projekt Miteinander reden in der Nelson-Mandela-Schule. Nisa-Nur und Wondibel in der Klasse 6c

Projekt „Miteinander reden …“ in der Nelson-Mandela-Schule. Die Trainerinnen Nisa-Nur und Wondibel

Wie das Demokratie-Projekt Miteinander reden … junge Menschen ermutigt, ihre eigene Meinung zu sagen und die anderer auszuhalten

Es ist kurz vor acht Uhr! Von überall her strömen Kinder auf das Gelände der Nelson- Mandela-Schule. Sie lassen die Cafeteria links liegen, huschen an den Grünpflanzen vorbei, dann sehen sie an einer Wand bunte Kraftausdrücke aus Comics: „Uff!“, „Booom“, „Wahmm!“ steht da, von Kindern gemalt. Geht es an der Schule in Wilhelmsburg immer so heiß her?

Drinnen im Klassenraum der 6c sind alle ruhig und konzentriert. „Guten Morgen, Frau Evren und Frau Opoku“, rufen die Kinder. „Guten Morgen!“, sagen die beiden jungen Frauen, die mit ihnen im Stuhlkreis sitzen. Es ist acht Uhr morgens in Wilhelmsburg, einige Tage zuvor ist der Ramadan mit dem Zuckerfest zu Ende ge­gangen. Und gerade über das Fasten und was das bedeutet in den Religionen haben die Kinder sehr viel geredet in den vergangenen Wochen. „Wondi und ich haben beim Fasten so viele Gemeinsamkeiten“, sagt Nisa-Nur Evren. „Weil es das im Christentum auch gibt“, ergänzt Wondibel Opoku, „und immer hat es das Ziel, Gott näherzukommen.“

Doch auch nichtreligiöse Kinder haben einen Bezug zum Fas­ten, schließlich kann man auch Smartphone- oder Zucker­fasten. Mal was weniger machen. Weniger Süßes, weniger Social-Media. Und dann: schauen, was passiert mit einem. Allen Formen gemeinsam ist „der Verzicht, der einen zurück­holt zu den Grundbausteinen, die man selbst hat, um mit sich selber zu wachsen“, sagt Nisa-Nur. Und Wondibel nickt.

Die gesellschaftliche Polarisierung schürt Ängste

Die beiden 27-Jährigen sind zu Gast in der Klasse, um inter­religiösen Dialog zu fördern. Das Projekt heißt Miteinander reden …, die BürgerStiftung Hamburg kooperiert dafür mit dem ikm, dem Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation. Auslöser für die Zusammenarbeit war das Wahljahr 2024 und die sich vertiefenden gesellschaftlichen Gräben. Die Remigrationsdebatte etwa macht migrantischen Kindern und Jugendlichen Angst – und mehr als die Hälfte der unter 18-Jährigen in Hamburg hat einen Migrationshintergrund. Die Ziele des Projekts: Demokratische Prinzipien und Mei­nungsfreiheit erlebbar zu machen und zu lernen, schwere Themen besprechen zu können. Mehr als 40 Workshops gab es bereits in Stadtteilschu­len, Berufsschulen und Gymnasien. Über: Diskrimi­nierung, Rassismus, Nahost­konflikt, Religion. Das Kon­zept: Zu zweit kommen geschulte Trainer:innen in die Schulen, die das Thema in sich tragen, die Vorbilder sein können für die Kinder. Ein Imam und ein Pastor etwa. Echte Menschen. Zum Befragen, zum Begreifen.

Drei Wege, sich der Welt zu nähern

Nisa-Nur Evren ist gläubige Muslima. Aufgewachsen ist sie in Steilshoop. Als sie vier Jahre alt ist, geht sie zum Islamunterricht in die Centrum- Moschee in der Nähe des Steindamms beim Hauptbahnhof. Sie engagiert sich in der Gemeinde, als sie älter wird, auch als religiöse Lehrbeauftragte. „Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt und gemerkt, dass diese Arbeit mich sehr, sehr er­füllt“, sagt sie und lächelt. „Ich habe das Gefühl, ich kann das auch gut.“ Was sie noch hervorragend kann: sich Sachen merken. „Ich hatte von Kindheit an ein sehr gutes Gedächt­nis, damit bin ich gesegnet von Allah“, sagt Nisa-Nur. Es ist so gut, dass sie eine Hāfiz ist. Das heißt: Sie kann den gesam­ten Koran auswendig. Ein Jahr war sie dafür in Istanbul auf einer Koranschule, heute gibt sie ihr Wissen in Hamburg an junge Mädchen weiter. Sie ist im Vorstand des Bündnisses der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland, und sie studiert islamische Theologie auf Lehramt. Und Physik. Und Theater. Drei Wege, sich der Welt zu nähern. Nisa-Nur Evren schlägt gerne Brücken. Sie zeigt, dass das alles nebeneinander bestehen kann: ihre religiöse Sensibili­tät, ihr Glauben und die Lust daran, am weltlichen Leben und der Gesellschaft mitzuwirken. „Und manchmal bin ich einfach nur Nisa, die gerne Theater spielt.“

 

„Du bist meine Anwäl­tin“

Wondibel Opoku ist gläubige Christin, geboren und aufge­wachsen in Wilhelmsburg – „und stolz drauf!“ Ihr Vater ist vor 35 Jahren aus Ghana nach Hamburg gekommen. Und da dort Kirche und Kultur eng miteinander verknüpft sind, war vor­gezeichnet, dass Religion einen Platz in Wondibels Leben haben wird. „Und für viele migrantisierte Personen war unse­re Gemeinde auch eine Möglichkeit, irgendwie Heimat zu spüren“, sagt sie, „ich habe da andere Jugendliche getroffen, die mir erzählt haben, wie es bei ihnen auf der Schule ist in Jenfeld, Billstedt, Horn.“ Heute ist sie Teil einer Freikirche, viele verschiedene Kulturen gibt es dort unter einem Dach. Ihren Eltern ist sie dankbar, denn leicht hatte es die Familie nie. „Es war ein großer Kampf um Survival und der Wunsch, den Kindern trotzdem was Gutes bieten zu können“, sagt Wondibel. „Mein Vater hat drei Jobs geschuftet, und trotzdem war er bei jedem Elternabend dabei.“ „Du bist meine Anwäl­tin“, hat er immer wieder zu ihr gesagt, und sie hat wirklich Jura studiert. Weil ihr das liegt, weil sie gerne stundenlang lernt. Weil es sie erfüllt, etwas verstanden zu haben. „Und um eine Stimme für Leute sein zu können, die sich nicht in diesem Rechtssystem auskennen“, sagt sie. Und erzählt noch von einem Moment, der viel aussagt über sie und ihren Glauben: „Ich habe das zweite Staatsexamen geschrieben, das war megaanstrengend und megaschwierig, aber Leute haben sich extra zu mir gesetzt und gemeint: Ich brauch deine Energie“, sagt sie – „aber diese Energie kommt nicht von mir. Ich schöpfe meine Kraft aus Gott.“

Es geht um Werte, um die eigenen und die der anderen

Jetzt wird es turbulent in der Klasse 6c. Hände recken sich nach oben. „Welche Werte kennt ihr?“ hat Wondibel in die Runde gefragt und geht nun zu einem Whiteboard. „Hilfs­bereitschaft“, sagt ein Mädchen, „Respekt“, sagt ein Junge. „Wow, I love it!“, ruft Wondibel und schreibt das Wort schnell auf: „Respekt. Das ist gut!“ Denn auch darum geht es, selbst beim Fasten. Denn das Thema führt immer wieder zu Kon­flikten, auch in dieser Klasse. Wenn auf andere herabgeblickt wird, die aufgrund ihres Glaubens fasten. Oder umgekehrt: Wenn jemand, der nicht fastet oder nicht durchhält, als schlechter Muslim gilt. „Weil Werte bei mir persönlich höher stehen, bedeutet das nicht, dass andere Werte weniger wert sind“, sagt Nisa-Nur. Im Kreis um sie herum sitzen Amar, Me­lissa, Zyrjet, Mariya oder Boran. Alle hören zu.

Elisabeth Hintze ist die Klassenlehrerin der 6c, und sie ist begeistert von dem Projekt. „Es ist so wichtig, dass wir hier einen Raum schaffen, in dem wir gemeinsam Toleranz und Kritik trainieren können“, sagt sie nach dem Workshop. Wa­rum das so gut funktioniert, wenn Nisa-Nur und Wondibel zu Besuch sind? „Erst einmal stammen die beiden nicht aus dem Kontext Schule“, sagt die Lehrerin. „Und dann können sie emotionaler sein, persönlicher“, fügt sie hinzu. „Man kann mit ihnen über alles reden. Denn alles was wir hier bespre­chen, bleibt auch wirklich hier bei uns.“ Und, eines ist ihr noch wichtig: „Das sind ja beides junge Frauen, die was ge­schafft haben. Das ist wichtig für meine Mädchen hier.“

Es ist so wichtig, dass wir hier einen Raum schaffen, in dem wir gemeinsam Toleranz und Kritik trainieren können.

Elisabeth Hintze, Lehrerin an der Nelson-Mandela-Schule

Nisa-Nur Evren ist gerade dabei, die Werte vom Whiteboard auf Karten zu schreiben und auf den Boden zu legen. „Dank­barkeit“ liegt dort neben „Gerechtigkeit“ oder „nicht rassis­tisch sein“. In den kommenden Minuten werden die Kinder rote Klebepunkte auf die gelben Karten verteilen – bei den Werten, die ihnen besonders viel bedeuten. Viele werden bei „Gesundheit“ landen und bei „mit der Familie Zeit verbrin­gen“. Wenige kleben auf „Hilfsbereitschaft“. „Ich möchte das aber gern“, sagt ein Junge. „Dann sollte es den anderen auch wichtig sein“, sagt Wondibel. Später sagt Nisa-Nur: „Die Kin­der sollen spüren, dass sie gehört werden.“ Sie selbst kennt aus ihrer Kindheit, dass gerade muslimische Kinder in den Schulen mehr kämpfen müssen als andere.

Wir kommen aus ähnlichen Lebensrealitäten

„Wir kommen aus ähnlichen Lebensrealitäten wie die Kinder hier“, sagt Nisa-Nur. Sie möchte sichtbar machen, wer sie ist, wie sie sein möchte. Auch um die Gesellschaft weiterzubrin­gen. „Meine Eltern zum Beispiel hatten in ihrem Leben keine einzige Situation, in der sie jemand aufgrund ihrer muslimi­schen Identität besonders wertgeschätzt hat“, sagt sie.Auch Wondibel und Ni­sa-Nur erleben Rassismus. Wondibel hat dazu einen Workshop entwickelt, der im Rahmen von „Miteinan­der reden …“ über das ikm durchgeführt wird. „Le­bensrealität Rassismus“ heißt er, auch mit diesem Thema geht sie in die Schulen. „Weil ich dabei mithelfen möchte, dass wir endlich ins Gespräch kommen“, sagt sie – „weil immer so oft über Menschen geredet wird, statt mit ihnen.“

Hier in der Klasse 6c geht es an diesem Montagmorgen noch ein paar Minuten um das Fasten und die Religion. Auch da ist den beiden bewusst, dass sie nicht für alle Spielarten ihrer Weltreligionen sprechen können. Müssen sie auch gar nicht. „Ich bin nicht Frau Katholik, Frau evangelisch-lutherisch, was auch immer“, sagt Wondibel. „Aber wenn wir den Kindern hier sagen können: ‚Schau, hier ist eine ganz andere Pers­pektive, wie wäre es damit?‘ – dann kann dieser Impuls eine megagroße Chance eröffnen – und die muss nicht unbedingt zu einem Agreement führen. Man kann die Unterschiede auch stehen lassen.“ „Miteinander zu reden bedeutet oft auch, einander auszuhalten“, sagt Nisa-Nur, „und darum geht es ja in der Demokratie: Wir leben als Gemeinschaft so zusammen, dass wir versuchen, allen die Möglichkeit zu geben, ihre Frei­heit auszuschöpfen. Auch das üben wir hier.“

Projekt Miteinander reden in der Nelson-Mandela-Schule

Bibel, Ko­ran oder Hollywood

Die Kinder haben viel gelernt in den vergangenen Wochen. Sie haben das Mandarinenspiel gespielt, wo sie eine Manda­rine bekommen haben, die alle anders aussahen – manche waren größer, andere hatten eine Delle –, aber gemeinsam hatten sie: Sie waren alle Mandarinen. Sie haben „Bibel, Ko­ran oder Hollywood“ gespielt. Da müssen die Kinder raten, aus welchem der Bereiche ein Zitat stammt. Kostprobe: „Ein gütiges Wort und Verzeihung sind besser als ein Almosen, auf die eine Kränkung folgt“, „Wer ist der größere Tor? Der Tor oder der Tor, der ihm folgt?“, „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“. Richtig sind: Koran, Star Wars, Bibel. Außerdem haben die Kinder auch viel miteinander geredet. Über ihre Religion und über die der anderen. Sie haben einander zugehört. Von Unter­schieden und Gemeinsamkeiten erfahren.

Das beste Team

Nun naht die nächste Stunde: Geschichte. Es wird unruhig. Nisa-Nur Evren möchte aber noch etwas loswerden: „Ich würde mich freuen, wenn ihr euch später daran erinnert, dass da zwei Menschen bei euch waren, die waren total unter­schiedlich: Wondi christlich, ich muslimisch, beide super­religiös. Wir leben in unterschiedlichen Lebenswelten – aber wir sind das beste Team, was ihr finden könnt.“ Die 6c klatscht. Und applaudiert ein bisschen auch sich selbst. „Amazing!“, ruft Wondibel. Da erklingt der Gong zur Pause.


Kooperationspartner: Das ist das ikm

Das Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm) wurde 2000 als gemeinnütziger Verein gegründet und ist in der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Das ikm vermittelt Kompetenzen für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten und schärft den Blick für unterschiedliche Lebenswelten und damit einhergehenden Machtasymmetrien, um Diskriminierungen abzubauen. Dafür bietet es spezielle Trainings und Workshops an.
www.ikm-hamburg.de

 

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