Oft gibt es Gegenverkehr, und man muss auf den Fußweg ausweichen“, liest Leni vor, „eine Freundin von mir ist vor das Auto gefahren und umgefallen“. Es sind Zitate aus einer Umfrage bei ihr an der Schule, dem Gymnasium Corveystraße im Stadtteil Lokstedt. Dort setzen sich die fünf Schülerinnen dafür ein, dass ihr Schulweg sicherer wird. Begonnen haben sie damit vor vielen Monaten als Teil des Unterrichts – inzwischen sind sie sogar in ihrer Freizeit aktiv und lassen nicht mehr locker. Obwohl es bald nicht mehr ihr eigener Schulweg sein wird, weil sie bereits für das Abitur lernen, die Prüfungen stehen an. Und obwohl sie natürlich auch noch all das machen, was man halt so macht, wenn man gerade volljährig wird.
Am Anfang hat unsere Klasse gelacht über unsere Idee. Das sei viel zu schwierig.
Und wirklich: Der erste Schritt ist fast auch der letzte. Die Schülerinnen rufen bei einigen Behörden und bei der Polizei an, reden über die Gefahren und über die Ampel. „Die haben uns alle gesagt, das sei schwierig, weil das nicht einfach so gemacht werden kann“, sagt Sarah, „oder die waren nicht zuständig.“ „Da haben wir uns gefragt, ob das Projekt wirklich eine gute Idee ist“, sagt Mina. „Aber Herr Fischer meinte, wir sollten dranbleiben.“ Der Lehrer kennt die Hürden: „Gerade bei Behörden beißen sich die Schülerinnen und Schüler oft die Zähne aus, da ist eine hohe Frustrationstoleranz nötig.“ Aber „Lernen durch Engagement“ heißt auch: zu lernen, mit Rückschlägen und Hürden umzugehen. Es wird Oktober. Es wird November. Demokratie braucht einen langen Atem. Andere in der Klasse organisieren Bücherspenden für Kindergärten oder sammeln Müll mit Grundschüler:innen. Die fünf machen weiter mit ihrer „Mission Ampel“.
Im Unterricht wird klar, dass sie Beweise brauchen, um die Politik davon zu überzeugen, dass es überhaupt ein Problem gibt. Und dass sie noch viel mehr Meinungen einholen müssen. Zahlen, Fakten, Zeugen. „Also haben wir zwei Umfragen gestartet“, sagt Antonia. „Die erste war eine für die Menschen, die rund um unser Gymnasium wohnen.“ Und so landet in deren Briefkästen ein Zettel mit einem QR-Code, der zu einer Online-Umfrage führt. Im Dezember trudeln die Ergebnisse ein: 39 Prozent der Anwohner:innen fahren mit dem Auto, 35 Prozent sind zu Fuß oder mit dem Bus unterwegs. Vom bevorzugten Verkehrsmittel her liegt die Schule also in einem recht gemischten Viertel. Sicherheit auf der Straße sei den Anwohner:innen wichtig, sagen sie. Und sie machen Vorschläge: Verkehrsinseln, Poller, ein „Anlieger frei“-Gebiet. „Die haben sich echt mit unserer Umfrage auseinandergesetzt und wollen uns weiterhelfen“, erinnert sich Milla. „Ehrlicherweise haben viele das Problem aber eher bei uns Schülern gesehen“, ergänzt Mina, „dass wir mit den Rädern auf dem Fußweg fahren und so.“ „Da kam auch die Idee eines Workshops zur Verkehrssicherheit auf“, sagt Leni, „um schon den jüngeren Schülerinnen und Schülern klar zu machen, dass sie besser nicht zu fünft nebeneinander fahren.“
Seit dem Schuljahr 2008/09 ist die BürgerStiftung Hamburg Teil des Netzwerks „Lernen durch Engagement“ (LdE). Als Kompetenzzentrum begleitet sie Schulen und Lehrer:innen beratend und mit Workshops, stellt Materialien und Methoden zur Umsetzung der Lernform bereit und setzt sich dafür ein, LdE bildungspolitisch zu verankern. Sie haben Fragen oder möchten mit Ihrer Schule an [’You:sful] teilnehmen? Wenden Sie sich gerne an: Dr. Heike Schmidt, Tel. (040) 8788969-66 bzw. an heike.schmidt@buergerstiftung-hamburg.de
Damit könnte die Geschichte über das Lernen durch Engagement bereits zu Ende sein. Schließlich endet kurz nach Weihnachten das Schuljahr. Die Schülerinnen präsentieren ihr Projekt vor der Klasse, bekommen eine Abschlussnote und ein Zertifikat. [’You:sful] ist eine Erfolgsgeschichte – so würde das Fazit lauten. Das sagen auch die Zahlen der BürgerStiftung Hamburg: 90 Prozent der Teilnehmenden sind davon überzeugt, mit ihrem Projekt Gutes bewirkt zu haben – und zwar mit immer neuen Themen: Stand 2009 das Engagement in sozialen Einrichtungen im Vordergrund, kam seit 2013 das Thema Flucht hinzu sowie Projekte im Umwelt-, Tier- und Klimaschutz, außerdem die Themen Toleranz und Gender. „Lernen durch Engagement“ hat zudem positive Auswirkungen auf die Schüler:innen und ihre Leistung in der Schule: Das Gelernte wird nachhaltiger erinnert, die Fähigkeit zur Selbstorganisation wächst und die Lernmotivation steigt. Die Geschichte ist aber noch nicht vorbei. Denn die Schülerinnen legen jetzt erst richtig los. Erst einmal startet Mitte Januar die zweite Umfrage, die unter den Schüler:innen des Gymnasiums. Und die liefert endlich Beweise: Die Gefahr auf dem Schulweg ist real. 39 Prozent der Mitschüler:innen empfinden den Schulweg als belastend und fahren auf dem Bürgersteig, um Autos auszuweichen. Die fünf beschließen, ihr Projekt nun auch den Eltern vorzustellen – und sie rennen offene Türen ein. „Es ist so toll, dass die Schülerinnen das machen“, sagt Miryam Kruse vom Elternrat, „ich betrachte den Verkehr seit Jahren mit Sorge.“
Die Schülerinnen entwickeln dabei Fähigkeiten, die im Unterricht sonst weniger zum Tragen kommen – Empathie zum Beispiel oder den Mut, auf Menschen zuzugehen.
Andreas Fischer | Lehrer am Gymnasium Corveystraße